Die moderne Medizin ist heute hoch entwickelt, besonders im Hinblick auf Fortschritte bei Operationen. Auch der Ersatz von Körperfunktionen, wie z. B. der Nierenfunktion durch Dialyse, ist aus der Medizin nicht wegzudenken. So ist der Einsatz der Schulmedizin unumstritten, z. B. bei Bypassoperationen, hochakuter Blinddarmentzündung, Diabetestherapie und bestimmten Tumorerkrankungen. Damit ist ein Teil der Grenzen der Naturheilkunde klar abgesteckt.
Um die Möglichkeiten der Naturheilkunde zu beschreiben, ist es nötig, den Begriff Naturheilkunde näher zu erläutern:
Im engeren Sinn wird darunter die Klassische Naturheilkunde verstanden mit ihren fünf Säulen Licht, Luft, Wasser, Bewegung und Ernährung.
Im weiteren Sinn ist sie ein Sammelbegriff für alternative und komplementäre Heilverfahren, z. B. Homöopathie, Akupunktur, Klostermedizin, Osteopathie, Fußreflexzonentherapie, Pflanzenheilkunde etc.
Allen Therapieformen gemeinsam ist, dass Heilreize gesetzt werden, die die Selbstheilungskräfte des Organismus aktivieren. Anders gesagt, nicht die Therapie heilt, sondern der zu einer Heilreaktion angeregte Organismus. Das chinesische Chi, die Hahnemann´sche Lebenskraft oder die Selbstheilungskräfte sind unterschiedliche Ausdrücke für ein und denselben Vorgang. Wir kennen Spontan(Selbst)heilungen von akuten Krankheiten (grippale Infekte oder Schnupfen), aber auch von chronischen Krankheiten (Neurodermitis, Asthma, Rheuma oder Krebs). Dies beweist, dass der Organismus grundsätzlich die Kraft hat, die meisten Krankheiten selbst zu heilen. Diese Tendenz zur Selbstheilung wird durch die naturheilkundlichen Verfahren gefördert. Dabei wird dem Einfluss der Seele auf den Körper große Aufmerksamkeit geschenkt. So gehören Methoden wie Autogenes Training, Autosuggestion, Imaginations- oder Atemtechniken wesentlich zur naturheilkundlichen Behandlung.
Der „Vater“ der Heilkunde, der griechische Arzt Hippokrates (etwa 460–377 v. Chr.), war sich über diese Zusammenhänge im Klaren. Aus diesem Grund sollte ein guter Arzt ein Künstler sein. Nach Hippokrates kommt es darauf an, jeden Menschen individuell zur Gesundheit zurückzuführen. Dabei ist ihm besonders wichtig, bereits leichte Störungen der Gesundheit durch geeignete Maßnahmen, wie Diät oder Bewegung zu beseitigen. Seine Grundaussage ist, die Kräfte des Körpers durch richtige Ordnung des Lebens und der Lebensweise zu erhalten und zu stärken. Der Arzt müsse durch sein Wesen den Kranken positiv beeinflussen. Daraus folgt ein hohes ethisches Verantwortungsbewusstsein, das im hippokratischen Eid seinen Ausdruck findet. Dieser hat seine Gültigkeit bis heute nicht verloren.
Auch den Klassikern der Naturheilkunde waren diese Zusammenhänge bewusst bzw. sie haben sie intuitiv erfasst.
Vinzenz Prießnitz (1799–1851), einer der Väter der Wasserheilkunde, wirkte durch seinen persönlichen Einfluss auf seine Patienten beruhigend und ermutigend, wie vielfach berichtet wird. Seine Heilanwendungen waren Kaltwasserbehandlung und Diät.
Sebastian Kneipp (1821–1897) differenzierte die Wasserbehandlungen zu milderen Reizen und nutzte zusätzlich Pflanzenheilkunde und Diät zur Heilung der Patienten. Sein Buch „So sollt ihr leben“ ist bis heute aktuell.
Der erste „wissenschaftliche“ Naturarzt Dr. med. Heinrich Lahmann (1860–1905) führte neben Wasserbehandlungen, Licht- und Luftkuren die Diät weiter, indem er die Wichtigkeit einer basenreichen Kost für die Gesundheit des Menschen erkannte.
Eduard Bilz (1842–1922) betrieb in Radebeul ein großes Sanatorium mit Weltruf. Sein Buch „Das neue Naturheilverfahren“, in dem die Behandlungsmethoden, die in seinem Sanatorium durchgeführt wurden, zur Darstellung kamen, wurde zum meistverkauften Naturheilkundebuch der damaligen Zeit.
Prof. Dr. med. Alfred Brauchle (1898–1964) führte mit seiner Arbeit an einer Dresdner Klinik die Naturheilkunde in eine neue Zeit. Erstmals arbeiteten Schulmediziner und Naturheilarzt zusammen, sowohl in der Diagnose als auch in der Therapie. Die Erfolge der naturheilkundlichen Behandlungen unter seiner Leitung wurden von dem Schulmediziner Prof. Dr. Grothe wissenschaftlich begleitet.
Prof. Brauchle teilte die Lebensreize der Klassischen Naturheilkunde in zwei Kategorien ein:
- die vorwiegend von der Haut aus wirkenden Lebensreize:
Sonne, Licht, Wärme, Luft, Wasser, Kälte und Erde - die vorwiegend auf die Muskulatur wirkenden Lebensreize:
Massage, Gymnastik, Ruhe, Wegekuren und Entspannung.
Diagnose- und Therapieverfahren der Naturheilkunde
Jede gute Therapie beruht auf einer gründlichen Diagnose. Damit sind Diagnose und Therapie untrennbar. Dies gilt für den körperlichen Bereich ebenso wie für den seelischen und den geistigen. Im Folgenden werden einige naturheilkundlich bedeutsame Verfahren beschrieben.
Die Homöopathie wurde von Dr. Samuel Hahnemann (1755–1843) entwickelt. Sie basiert auf dem Prinzip „Ähnliches wird mit Ähnlichem geheilt.“ Zum Beispiel kann der sogenannte Nesselausschlag (Frieseln) durch homöopathisch zubereitete Brennnessel geheilt werden. Bei der Herstellung eines homöopathischen Mittels wird die pflanzliche, mineralische oder tierische Substanz durch ein genau festgelegtes Verfahren verdünnt und potenziert.
Die Traditionelle chinesische Medizin (TCM) umfasst Diät, Kräuterbehandlung, Akupunktur, Massagetechniken, spezielle Bewegungsformen und besondere Diagnosetechniken, wie Pulsdiagnose und Zungendiagnose.
Die Phytotherapie ist die Lehre von der Heilwirkung der Pflanzen. Es gibt bei diesen verschiedene Zubereitungsformen wie Tees, Tinkturen und Tabletten.
Die Biochemische Heilweise nach Dr. Schüßler beruht auf homöopathisch zubereiteten Salzen. Dr. Schüßler (1821–1898) erkannte bei seinen Studien, dass die Körperzellen ihre Lebensfunktionen nur dann optimal erfüllen können, wenn die darin enthaltenen Mineralsalze in einer bestimmten Konzentration vorhanden sind.
Die Bachblüten-Therapie wurde nach ihrem Begründer Dr. Edward Bach (1886–1936) benannt. Sie unterscheidet sich grundsätzlich von der Phytotherapie. Durch die besondere Zubereitung der Blüten von ausgewählten Pflanzen kommt nicht die chemische Wirkung der Blüte zur Geltung, sondern ihre Kraft, bestimmte seelische Zustände zu beeinflussen.
Die Chiropraktik ist ein Verfahren, Fehlstellungen der Wirbelsäule manuell (mit den Händen) zu behandeln. Die Anfänge dieser Therapie entstanden auf dem Lande, wo Schäfer derartige Praktiken bei ihren Tieren anwandten. Diese Erfahrungen wurden auf den Menschen übertragen, im Laufe der Zeit hoch verfeinert und zu verschiedensten Methoden weiterentwickelt.
Die Osteopathie ist eine Heilkunde, welche die Zusammenhänge zwischen Erkrankungen von Knochen, Gelenken, umliegendem Gewebe und inneren Organen ganzheitlich erfasst und behandelt.
Die Klostermedizin geht bis in das 5. Jahrhundert zurück und ist vor allem durch das Werk der Hildegard von Bingen (1098–1179) gegenwärtig stark in den Mittelpunkt gerückt. Sie ist die bekannteste Vertreterin dieser Heilkunde.
Die Augendiagnose (Irisdiagnose) nutzt Hinweise aus dem Auge und ist durch umfangreiche Erfahrung und systematische Forschung zu einem äußerst wertvollen und oft unverzichtbaren Hinweisdiagnostikum geworden. Sie gibt vor allem Einblick in die Grundkonstitution des Menschen.
Die Physiognomik geht von der Erfahrung aus, dass jede äußere Erscheinung des Menschen eine Information in sich birgt. Diese Information lernt der Therapeut zu erfassen durch Übung sensibler Betrachtung und Wahrnehmung. Sie erlaubt ihm Rückschlüsse von den äußeren Merkmalen auf die inneren physischen und psychischen Zusammenhänge.
Die Fußreflexzonentherapie kommt ursprünglich aus der indianischen Kultur. Die Physiotherapeutin und Heilpraktikerin Hanne Marquardt hat die Wechselwirkungen zwischen Fußreflexzonen und Körperregionen systematisiert, und durch jahrzehntelange Erfahrungen vervollkommnet.
Die Ohrakupunktur wurde von Paul Nogier entwickelt. Diese Therapie gründet sich auf die Behandlung von Akupunkturpunkten am Ohr.
Das Fasten ist eine von alters her geübte, höchst einfache, aber wirkungsvolle Therapie. Es ist die intensivste Form der Diät.
Unter Diät ist nicht nur das Essverhalten, sondern die Veränderung der gesamten Lebensführung zu verstehen.
Zusammenfassend sei nochmals betont, dass allen Therapieverfahren gemeinsam ist, dass sie die Selbstheilungskräfte anregen. Einer der Großen der Heilkunde, Paracelsus, meint dies, wenn er vom „inneren Arzt im Menschen“ spricht.
Hippokratischer Eid
„Ich schwöre bei Apollon, dem Arzte, bei Asklepios, Hygieia und Panakeia und bei allen Göttern und Göttinnen, indem ich sie zu Zeugen mache, dass ich diesen Eid und diese meine Verpflichtung erfüllen werde nach Vermögen und Verständnis, nämlich denjenigen, welcher mich in dieser Kunst unterwiesen hat, meinen Eltern gleich zu achten, sein Lebensschicksal zu teilen, ihm auf Verlangen dasjenige, dessen er bedarf, zu gewähren, das von ihm stammende Geschlecht gleich meinen männlichen Geschwistern zu halten, sie diese Kunst, wenn sie dieselbe erlernen wollen, ohne Entgeld und ohne Schein zu lehren und die Vorschriften, Kollegien und den ganzen übrigen Lernstoff meinen Söhnen sowohl wie denen meines Lehrers und den Schülern, welche eingetragen und verpflichtet sind nach ärztlichem Gesetze, mitzuteilen, sonst aber niemand.
Diätetische Maßnahmen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken nach meinem Vermögen und Verständnisse, drohen ihnen aber Fährnis und Schaden, so werde ich sie davor zu bewahren suchen.
Auch werde ich keinem, und sei es auf Bitten, ein tödliches Mittel verabreichen, noch einen solchen Rat erteilen, desgleichen werde ich keiner Frau eine abtreibende Bougie1 geben. Lauter und fromm will ich mein Leben gestalten und meine Kunst ausüben.
Auch will ich bei Gott keinen Steinschnitt2 machen, sondern ich werde diese Verrichtung denjenigen überlassen, in deren Beruf sie fällt.
In alle Häuser aber, in wie viele ich auch gehen mag, will ich kommen zu Nutz und Frommen der Patienten, mich fernhalten von jederlei vorsätzlichem und Schaden bringendem Unrechte, insbesondere aber von geschlechtlichem Verkehre mit Männern und Weibern, Freiern und Sklaven.
Was ich aber während der Behandlung sehe oder höre oder auch außerhalb der Behandlung im gewöhnlichen Leben erfahre, das will ich, soweit es außerhalb nicht weitererzählt werden soll, verschweigen, indem ich derartiges für ein Geheimnis ansehe.
Wenn ich nun diesen Eid erfülle, ohne ihn zu brechen, dann möge mir ein glückliches Leben und eine glückliche Kunstausübung beschieden sein und ich bei allen Menschen für immer in Ehren stehen, wenn ich ihn aber übertrete und meineidig werde, möge das Gegenteil geschehen.“
(Aus: „Die großen Naturheilverfahren und ihre Schöpfer“
Rat und Wissen aktuell, Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt, 1988)
2006
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Upmann übersetzt „Mutterzäpfchen“. (Anm. d. Übersetzers)↩
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Die chirurgische Beseitigung von Steinen in der Harnblase erforderte eine besondere Geschicklichkeit des Operateurs. Da die Ärzte im Altertum weniger operative Schulung hatten als die unserer Zeit und außerdem die sehr oft gewünschte Ausführung dieses Schnittes als eine Baderarbeit, die des Arztes unwürdig ist, ansahen, so bildete sich bereits im hohen Altertum in Griechenland wie in Ägypten der Stand der Steinschneider oder Lithotomen heraus. (Anm. d. Übersetzers)↩