„Nebenan wächst der Holunder. Der Geruch der Kinderzeiten gaukelt vor Geborgenheiten.“
Diese Assoziationen verbindet der Verlagskaufmann und Autor Horst Fleitmann in seinem Gedicht „Sommertag im Ruhrgebiet“ 1 mit der „Heilpflanze des Jahres 2024“. Der Holunder von nebenan – er ist bekannt, die meisten haben ein Bild vor Augen, wenn sie von ihm lesen und beinahe überall ist er in Reichweite.
Vorkommen und Botanik
Holunder umfasst weltweit um die zwanzig Arten in subtropischem und gemäßigtem Klima. In Deutschland heimisch sind der Zwergholunder (Sambucus ebulus), der Rote (Sambucus racemosa) und der Schwarze Holunder (Sambucus nigra). Für gewöhnlich ist letzterer gemeint, wenn allein von „Holunder“ die Rede ist, vielleicht weil er so allgegenwärtig scheint. An den Boden stellt er geringe Ansprüche, nur Stickstoff ist Voraussetzung, sodass er mit seinen flachen Wurzeln oftmals in Siedlungsnähe und auf unwirtlichem Untergrund als Erstling zu finden ist. Auch an Feldrändern, in Hecken und sonnendurchfluteten Waldstücken heimisch, erreicht das schnellwachsende Gehölz eine Höhe von bis zu zehn Metern. Die Rinde ist von graubrauner Farbe und in jungen Jahren mit vielen länglichen Korkporen überzogen, die dem Gasaustausch dienen. Mit dem Alter – es kann vorkommen, dass ein Holunder bis zu einhundert Jahre alt wird und dann eher einem Baum gleicht – wird die Rinde zunehmend rissiger und zerfurcht. Im Innern der Äste befindet sich weißes Mark, welches sich leicht entfernen lässt, früher als Korkersatz und in der Mikroskopie eine Rolle spielte und heute noch zu Reinigungszwecken von Juwelieren und Uhrmachern verwendet wird 2. Die Blätter stehen gegenständig und sind unpaarig gefiedert. Das einzelne Fiederblatt ist von großer, breiter Lanzettform mit unregelmäßig gesägtem Rand.
Nach dem phänologischen Kalender zeigt die Blüte des Schwarzen Holunders den Frühsommer an. Ein blühender Holunder ist ein unvergesslicher Anblick. Handtellergroße flache Scheindolden aus unzähligen, winzigen, cremeweißen Blüten mit auffälligen gelben Staubbeuteln leuchten weit und verströmen einen sehr süßlichen Duft. Wer diesen unverwechselbaren Geruch und das damit verbundene sommerliche Lebensgefühl konservieren möchte, bereitet Sirup oder Gelee aus den Blüten. Das alkoholische Modegetränk „Hugo“, in welchem Holunderblütensirup verwendet wird, erfreut sich vielleicht auch deshalb anhaltender Beliebtheit. Im Spätsommer hängen die Dolden, schwer von vielen kleinen, schwarzglänzenden Früchten, nach unten. Diese gehören zu den Steinfrüchten, werden aber gemeinhin als Beeren bezeichnet und sind nicht nur beim Menschen sehr beliebt. Einige heimische Kleinsäuger und um die 60 Vogelarten ernähren sich von Holunderbeeren 3. Wer direkt roh vom Strauch naschen möchte, sollte sich vorsichtig an sein individuelles Maß Verträglichkeit herantasten, da sich andernfalls Übelkeit, Erbrechen und Durchfall einstellen können. Unbedenklich sind die Beeren sobald sie zu Saft oder Marmelade über etwa eine halbe Stunde gekocht wurden 4.
Inhaltsstoffe und Anwendung
Ganz nebenbei unterstützt der Genießer mit der „Heilpflanze des Jahres 2024“ sein Wohlergehen. „Ein kostenloses Superfood, das mit kleinem Aufwand vor der eigenen Tür beschafft werden kann“ heißt es aus der Jury, welche für den gemeinnützigen Verein NHV Theophrastus seit 2003 einen Jahressieger der Heilpflanzen kürt. Dass Bahndämme oder Ränder befahrener Straßen und konventionell bewirtschafteter Äcker keine geeigneten Sammelstellen seien, wird ausdrücklich noch hinzugefügt. Ob selbst geerntet oder als Saft gekauft – Holunderbeeren strotzen regelrecht vor gesundheitsunterstützenden Inhaltsstoffen. Dazu gehören zahlreiche Vitamine und Mineralstoffe wie Magnesium, Kalium, Phosphor und Eisen in Abhängigkeit vom Standort der Pflanze. Flavonoid- und Anthocyanglykoside, Aminosäuren, Phenolsäuren, Triterpene, Schleim- und Gerbstoffe sind ebenfalls darin eingeschlossen. Dieses vielgestaltige Zusammenspiel sekundärer Pflanzenstoffe ist die Ursache der antiviralen, antioxidativen und immunstärkenden Eigenschaften des Holunders. Wer also beginnend mit der Erntezeit regelmäßig den Saft oder eine Suppe aus den Früchten zu sich nimmt, stärkt seine körpereigene Abwehr vorbeugend und kommt entspannter durch Herbst und Winter. Holunderbeeren haben außerdem eine leicht abführende und schmerzlindernde Wirkung.
Das Wissen um diese hervorragenden Qualitäten ist durchaus noch vorhanden und wird stetig weitergegeben, unter anderem auch durch Landwirte. Holunder ist die erste sogenannte Wildobstart, welche in größerem Umfang angebaut wurde 5. Das Statistische Bundesamt listet für 2022 über hundert Betriebe mit einer Gesamtanbaufläche für Schwarzen Holunder von etwa 440 Hektar 6. Obwohl eine maschinelle Ernte der empfindlichen Beeren bisher nicht möglich ist und eine zügige Kühlung und Verarbeitung notwendig sind, damit die Früchte nicht verderben, lässt die Nachfrage nach Holunderprodukten nicht nach. Neben ihrer kulinarischen Verwendung als Saft, Pulver oder Sirup, werden die Früchte auch als natürlicher Farbstoff in der Lebensmittel- und Textilindustrie geschätzt.
Als traditionelles Heilmittel werden die Blüten des Schwarzen Holunders von der Europäischen Arzneimittelagentur anerkannt. Eingesetzt werden sie vor allem als schweißtreibendes Mittel am Beginn von Erkältungskrankheiten. Sie haben ebenfalls einen sekretolytischen Effekt, welcher dafür sorgt, dass die Atemwege gut befeuchtet und der Sekretauswurf verbessert wird. Festsitzender Schleim bei Bronchitis oder Nebenhöhlenentzündungen wird gelockert. Des Weiteren sind Holunderblüten fiebersenkend und harnsteigernd. Hauptsächlich verantwortlich für diese Einsatzmöglichkeiten sind die in ihnen enthaltenen Flavonoide, namentlich Rutin. Wie in den Früchten, finden sich auch in den Blüten Gerb- und Schleimstoffe, Triterpene und organische Säuren. Trotz des auffälligen Duftes sind nur geringe Mengen ätherischer Öle inbegriffen.
Ziemlich in Vergessenheit geraten ist das Wissen um die Nutzung von Blättern und Rinde. Selbst die Wurzel wurde erfolgreich angewendet. „Wir nutzen heute im Endeffekt die Teile des Holunders, in denen die Wirkstoffe geringer konzentriert vorliegen.“ meint Konrad Jungnickel, Heilpraktiker mit Lehrauftrag an der Dresdner Heilpraktikerschule. Auslöser sei die Verunsicherung hinsichtlich einiger Substanzen wie dem Sambunigrin. „Selbstverständlich kann eine unsachgemäße Zubereitung oder falsche Dosierung den Heilungsprozess beeinträchtigen. Aber deshalb gleich ganz auf die Arznei zu verzichten, halte ich für übertrieben.“ Wie bei den Früchten komme es auch bei Anwendung der Blätter und Rinde darauf an, sie ausreichend lange zu erhitzen, um das Glykosid zu zersetzen und unschädlich zu machen.
Hauptanwendungsgebiete neben Erkältungs- und Infektionskrankheiten sind für den Holunder somit Verstopfung und Hautunreinheiten, Kopfschmerzen, Neuralgien, Harnwegs- und Nierenleiden. Bei Gicht und Rheuma gebrauchte ihn der bekannte Reformator der Medizin Theophrastus Bombast von Hohenheim.
Altes und neues Wissen
Nicht von ungefähr gehörte Sambucus nigra über Jahrhunderte zu den angesehensten heimischen Pflanzen. Die Wertschätzung ihm gegenüber zeigt sich auch darin, wie verwurzelt er in Mythologie und Volksglauben ist. Die Germanen hielten ihn für den Wohnsitz von Göttinnen und pflanzten ihn als Hausbaum. Unter ihm wurde gebetet und geopfert. Noch vor dreihundert Jahren soll es üblich gewesen sein, einem Holunder ehrerbietig zu begegnen und sein Fällen zu vermeiden. Viele Sprüche und Anweisungen im Zusammenhang mit Heilung und Schutz durch diese Pflanze sind bis heute im Brauchtum überliefert. Bis in den Tod hinein begleitete der Holunder den Menschen; sein Holz diente als Grabkreuz, Totenlager und Weissagung über die Aufnahme des Verstorbenen im Jenseits 7. Gegenwärtig liegen mehrere eindrucksvolle Studien zu Holunderbeeren vor, welche die Bedeutung dieser faszinierenden Pflanze für unsere Gesundheit belegen 8 9.
Bleibt zu wünschen, dass die Ernennung zur „Heilpflanze des Jahres 2024“ dazu führt, dass vorhandenes Wissen um all die vorteilhaften Eigenschaften des Holunders breiter wahrgenommen und angewendet wird.
NHV Theophrastus, Oktober 2023
Literatur:
Bäumler, Siegfried: Heilpflanzenpraxis heute, Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, München, 2007
Hiller, Karl; Melzig, Matthias F.: Lexikon der Arzneipflanzen und Drogen in zwei Teilen, Spektrum Akademischer Verlag GmbH Heidelberg, Berlin, 2003
-
https://www.aphorismen.de/gedicht/222480 vom 13.09.2023↩
-
https://www.boley.de/search?q=Holundermark vom 27.04.2023↩
-
https://www.forstpraxis.de/der-schwarze-holunder-sambucus-nigra-19547 vom 27.04.2023↩
-
Buhner, Stephen Harrod: Pflanzliche Virenkiller – Immunstärkung und natürliche Heilmittel bei schweren und resistenten Virusinfektionen, Edition Reuss GmbH, Herba Press, 2020, S. 168↩
-
Öko-Obstanbau 2/2016, Dr. F. Höhne: Wildobstanbau – Erfahrungen aus norddeutscher Sicht, https://www.foeko.de/publikationen/zeitschrift-oeko-obstbau/inhaltsverzeichnis-oeko-obstbau-2-2016/↩
-
https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Landwirtschaft-Forstwirtschaft-Fischerei/Obst-Gemuese-Gartenbau/Tabellen/strauchbeerenanbau.html vom 20.09.2023↩
-
https://www.walaarzneimittel.de/de/ueber-uns/substanzen-aus-der-natur/heilpflanzenlexikon-a-z/holunder.html vom 27.04.2023↩
-
Die Naturheilkunde 2/2023, Prof. Dr. rer. nat. M. Döll: Bakteriell und viral bedingtes Infektionsrisiko – Was kann der Schwarze Holunder leisten?, S. 32↩
-
Hirsch, Siegrid: Antivirale Pflanzen – Natürliche Wirkstoffe zur Stärkung des Immunsystems, Freya Verlag GmbH, 2021, S. 67↩