Allen Quellen gemeinsam ist, dass die Frauen (zumeist Göttinnen) ihrem Gegenüber entsprechend seines Charakters erscheinen: dem Guten begegnen sie helfend und belohnend, den Bösen erschrecken und bestrafen sie. Die namensgebende Hauptperson steht dabei in enger Beziehung zum „Hollerbusch“. Jahrhundertelang galt er als Wohnort oder zumindest als Tor in das Reich dieser, über das Schicksal der Menschen wachenden, Geister.
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Das Märchen der Frau Holle von den Gebrüdern Grimm
aufgenommen im November 2024 © NHV Theophrastus
Das Märchen der "Frau Holle" beschreibt die oft wahrgenommene Spannung zwischen einer fleißigen, zurückhaltend-gutmütigen Person und einer herrisch-fordernden und faulen. Am Beginn steht die ungerechte Ausnutzung der fleißigen Stieftochter, deren Unterdrückung in einer unmöglichen Forderung gipfelt. Sie soll der verlorengegangenen Spindel in den Brunnen hinterherspringen und sie wieder heraufholen. Manche mögen den folgsamen Sprung des Mädchens als blinden Gehorsam ablehnen. Sieht man in der Forderung der Stiefmutter einen unausweichlich harten Schlag im Leben, wie einen schmerzhaften Verlust oder plötzliche schwere Krankheit, dann regt das klaglose Fügen des Mädchens zum Nachdenken an. Zumal die Geschichte jetzt erst an Fahrt gewinnt.
Der Sprung in die Tiefe eröffnet eine neue Welt, schön, vertraut und doch etwas anders. Brote und Apfelbaum sprechen mit dem Mädchen, bitten um Hilfe. Und ihrem innersten Wesen entsprechend kommt sie der Bitte nach. Ihr Fleiß war keine Anpassung an das sie umgebende Umfeld, auch ohne Angst vor Repressalien ist sie fleißig und ordentlich. Unverwandt folgt sie dem Weg bis zu Frau Holles Haus.
In älteren Versionen des Märchens ist der erste Eindruck von Frau Holle ein abschreckender. Das fleißige Mädchen, welches zur "Goldmarie" wird, sieht aus dem Haus eine alte Frau mit großen Zähnen herausschauen und erschrickt darüber so sehr, dass es ausreißen will. Nicht immer begegnet uns unser Schicksal im ersten Moment freundlich. Mitunter müssen wir Mut aufbringen und uns ihm stellen.
Unter den Augen der Alten, deren ausgeschüttelte Federbetten auf Erden für Schnee sorgen, bewährt sich der gute Charakter ihrer Besucherin. Tüchtig erledigt sie alle an sie gestellten Aufgaben. "Frau Holle" ist auch darum mit dem Holunder so eng verknüpft, weil dessen unzählige kleine Blütenköpfchen beim Verblühen an fallenden Schnee erinnern.
Dem Mädchen geht es endlich gut, sie wird freundlich behandelt. Doch eine unerklärliche Sehnsucht treibt sie zurück zu denen, die ihre Familie sind. Frau Holle kennt den Weg zurück und sorgt dafür, dass das hilfsbereite und gutmütige Wesen des Mädchens sichtbar und nachhaltig belohnt wird. Dieser Lohn, diese augenscheinliche Begünstigung ruft Neid hervor. Die Stiefmutter will auch für ihr eigenes Kind ein solches Glück und schickt es auf denselben Weg, versucht gewissermaßen das Schicksal zu erzwingen. Doch ausschlaggebend für alles Folgende bleibt der Innere Kern der jeweiligen Person: dieses Mädchen ist und bleibt faul, obwohl sie sich anfangs bei Frau Holle bemüht. Der für sie erreichbare Gewinn vermag es nicht, diese Anstrengung dauerhaft aufrecht zu erhalten, ihre Trägheit ist ein zu beherrschender Teil ihres Wesens. So fällt sie schnell zurück in alte Gewohnheitsmuster, bis Frau Holle selbst sie zur Rückkehr auffordert. Zuversichtlich stellt sich ihre Besucherin ihrem Schicksal, meint sie doch beschenkt zu werden. Doch Frau Holle steht für Gerechtigkeit – so wie sie der Guten zu ihrem Glück verhalf, so straft sie diese für ihren schlechten Charakter.
NHV Theophrastus, 2024