Historisches
Im Alterum wurde die Melisse zunächst als Bienenfutterpflanze kultiviert. Melissa (μέλιơơα) bezeichnet im griechischen Sprachgebrauch die Honigbiene.
Bei den arzneikundigen Griechen und Römern stand die Melisse als Heilkraut in hohem Ansehen und wurde als Mittel gegen Bauchschmerzen, Infektionen, Insektenstiche und Frauenleiden verwendet. Bei den Römerinnen war die Pflanze auch wegen ihres Duftes beliebt.
In der Zeit vom Mittelalter bis zur Frührenaissance befassten sich u. a. Hildegard von Bingen sowie der Arzt und Chemiker Theophrastus Bombastus von Hohenheim – genannt Paracelus – mit der heilkundlichen Anwendung der Melisse. Paracelsus beschreibt in seinen Werken melissehaltige Zubereitungen zur Behandlung von Kontraktionen (krankhafte, anhaltende Verkürzung von Muskeln), Herzleiden, Lepra, Podagra („Fußgicht“) und „hinfallender Krankheit“. Unter der Letzteren sind offenbar Krankheitsbilder wie Epilepsie, Bewusstlosigkeit und Schwindel zu verstehen. Auch als Hausmittel spielte die Melisse eine wichtige Rolle. Sie war ein Bestandteil des sogenannten Karmelitergeistes, der erstmalig 1611 von französischen Mönchen als Geheimmittel angepriesen wurde.
Im 18. Jahrhundert waren es die Dominikanermönche, die die Melisse in Form eines alkoholischen Extraktes gegen zahlreiche Beschwerden benutzten.
1911 führten die Karmeliterinnen in Paris den „Melissengeist“ ein, der ebenfalls ein alkoholischer Extrakt war.
Botanische Merkmale
Die Melisse gehört zur Familie der Lippenblütler (Lamiaceae, Labiatae) und ist eine krautige, stark verästelte Pflanze. Sie besitzt ei- bis herzförmige Blätter, die im unteren Teil der Pflanze langgestielt und gesägt sind. Die Melisse wird bis etwa 80 cm hoch; ihr Stängel ist vierkantig. Aus den Blattachsen entspringen weiße, bläulich weiße oder gelbliche Blütenquirle. Die Blütezeit erstreckt sich in der Regel vom Juli bis August. Die Blätter riechen insbesondere beim Zerreiben zitronenähnlich.
Die Pflanze stammt aus Westasien sowie dem Mittelmeerraum und wurde im 11. Jahrhundert von den Arabern nach Spanien gebracht. Von dort kam sie dann nach Deutschland, wo erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts der kultivierte Anbau erfolgte.
Die Melisse kann man nicht nur auf großen Flächen kultivieren, sondern auch im Garten. In der Regel genügen etwa 3 Stauden, die sich durch Stockbildung vermehren lassen. Die Stöcke benötigen einen feuchten, humusreichen Boden und eine warme Lage. Die jungen Blätter und Triebspitzen lassen sich laufend ernten. Während und nach der Blütezeit geerntete Blätter sind geschmacklich und geruchlich minderwertig.
Inhaltsstoffe
Melisse enthält bis zu 0,8 % etherisches Öl (Melissenöl, Oleum Melissae, Melissae aetheroleum), 3 bis 5 % gerbstoffähnliche Verbindungen sowie Flavonoide, Triterpensäuren (z. B. Ursolsäure), Phenolcarbonsäuren und deren Derivate, Bitterstoff, Bernsteinsäure und Aesculin.
Zu den gerbstoffähnlichen Verbindungen der Melisse gehört u. a. das Polyphenol Rosmarinsäure, die wie einige Flavonode antioxidative sowie entzündungshemmende Eigenschaften besitzt und bis zu einer Konzentration von 4 % nachgewiesen werden konnte.
Das etherische Melissenöl enthält als Geruchsträger 40 bis 75 % Monoterpenaldyde, und zwar vor allem Geranial sowie Neral. Weitere Bestandteile des etherischen Öls sind insbesondere die bis zu 40 % vorkommenden Sesquiterpene β-Caryophyllen und Germacren D.
Melissenöl besitzt eine gelbe bis grüne Färbung und wird durch Wasserdampfdestillation der Blätter und Zweigspitzen isoliert, die den höchsten Ölgehalt vor dem Blühen der Pflanze aufweisen.
Melissenöl hoher Qualität gehört zu den teuersten etherischen Ölen; der Preis für 1 kg liegt bei 6000 Euro.
Pharmazeutische Zubereitungen und therapeutische Anwendung
Für therapeutische Zwecke können die frischen oder getrockneten Laubblätter der Melisse Verwendung finden. Bei der Trocknung darf die Temperatur von 40 °C nicht überschritten werden, um den Gehalt an etherischem Öl weitgehend zu erhalten.
Die getrocknete, meist geschnittene handelsübliche Droge „Melissenblätter“ (Melissae folium) muss nach den Forderungen des Europäischen Arzneibuches (4. Ausgabe, 2002) 4 % Hydroxyzimtsäure-Derivate (berechnet als Rosmarinsäure) enthalten. Außer der geschnittenen Droge kommen für verschiedene galenische Zubereitungen Drogenpulver, Flüssig- und Trockenextrakt zur Anwendung.
Auch das durch Wasserdampfdestillation gewonnene Melissenöl findet für pharmazeutische Zubereitungen Verwendung; allerdings oft in Kombination mit etherischen Ölen weiterer Pflanzenarten. Um 1990 waren 38 Zubereitungen im Handel, die Melissenöl als Einzelbestandteil oder kombiniert mit anderen etherischen Ölen enthielten.
Es ist darauf hinzuweisen, dass der über die Apotheke beziehbare, entsprechend dem Deutschen Arzneibuch (DAB 6) zusammengesetzte „Spiritus Melissae compositus“ (irritierend auch als Melissen- oder Karmelitergeist bezeichnet) nicht unter Einsatz von Melissenöl hergestellt wird, sondern auf der Basis von Citronellöl und anderen etherischen Ölen. Darüber hinaus gibt es Zubereitungen mit der Bezeichnung „Melissengeist“, die nicht nur Melissenöl, sondern auch etherische Öle bzw. weitere Bestandteile zahlreicher anderer Drogen enthalten.
In der traditionellen Phytotherapie umfasst die Anwendung der Melisse ein breites Indikationsgebiet: Herzbeschwerden, Magen-, Nieren- und Blasenleiden, Migräne, Menstruationsbeschwerden, Unruhezustände, Schlafstörungen, Ohrenschmerzen, Neuralgien, Erkältungskrankheiten.
In der Aromatherapie, die sich mit der Nutzung natürlicher etherischer Öle zur Erhaltung bzw. Wiedererlangung der Gesundheit befasst, werden für Melissenöl folgende Hauptindikationen angeführt:
Herzarhythmien, Angstzustände, Schlaflosigkeit, Nervosität, Magen- und Darmkrämpfe, Luftschlucken (Aerophagie), Gallenbeschwerden, Blasenentzündung, Übelkeit in der Schwangerschaft, Ausbleiben der Regel (Amenorrhoe), Wehenschmerzen.
Aufgrund seiner entkrampfenden Wirkung im Magen-Darm-Bereich ist Melissenöl nicht selten Bestandteil von Karminativa, d. h. Mitteln, die die Motorik (Bewegungsvorgänge) dieser Organe erhöhen.
Vermutet wird, dass an der sedativen, krampflösenden Wirkung der Melisse der Gehalt ihres etherischen Öls an β-Cariophyllen und Geraniol maßgebend beteiligt ist.
Durch neuere Untersuchungen konnte auch eine beachtliche antivirale Wirkung der Melisse nachgewiesen werden. Deshalb werden bestimmte Zubereitungen der Melisse zur Behandlung von Hauterkrankungen empfohlen, die durch Herpes simplex-Viren (HSV) hervorgerufen werden. Man unterscheidet beim Menschen zwei verschiedene Typen dieser Viren (HSV 1 und HSV 2). Im Erwachsenenalter sind 50 bis 100 % der Bevölkerung mit HSV 1 durchseucht. Die klinische Manifestation besteht in bläschenförmigen Hautveränderungen im Gesichtsbereich, die zum Rückfall (Rezidiv) neigen. Die antivirale Wirkung der Melisse ist vermutlich besonders auf ihren Gehalt an Rosmarinsäure und weiteren Polyphenolen zurückzuführen.
Durch experimentelle Untersuchungen, die vor etwa 10 Jahren durchgeführt wurden, konnte die traditionelle Erfahrung der sedierenden Wirkung der Melisse wissenschaftlich bestätigt werden. Dabei ließ sich quantitativ nachweisen, dass nach Inhalation von Melissenöl die motorische Aktivität des Nervensystems vermindert wird.
Von der Kommission E des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes wird die psychotrope Wirkung der Melisse für das Anwendungsgebiet „Nervöse Einschlafstörungen, funktionelle Magen-Darm-Beschwerden“ mit Veröffentlichung im Bundesanzeiger 1984 bestätigt. Die empfohlene Einzeldosis beträgt 1,5 bis 4,5 g Droge.
Zur Beruhigung und Steigerung des Wohlbefindens lässt sich Melisse u. a. als Teezubereitung und Badezusatz anwenden:
Beruhigungstee
3 Teelöffel geschnittene trockene Melissenblätter, ¼ Liter Wasser
Die Blätter mit dem kochenden Wasser übergießen und 10 Minuten ziehen lassen.
Davon 3 Tassen am Tag trinken. Am Abend getrunken verstärkt die Zugabe von Honig die beruhigende und einschlaffördernde Wirkung.
Entspannungbad
60 bis 70 g frische oder getrocknete Melissenblätter, 1 Liter Wasser
Die Melissenblätter in das Wasser geben und dieses zum Sieden bringen.
Nach 10 Minuten die Blätter abseihen und das Wasser zum Badewasser geben. Die Badedauer sollte 10 bis 15 Minuten, die Badetemperatur 37 °C nicht überschreiten.
Ergänzend sei noch Folgendes erwähnt. In der Küche werden Melissenblätter frisch oder getrocknet zum Würzen von Fleisch- und Fischgerichten, Wildbret, Salaten, Gemüsen, Pilzen, Soßen und auch als Bowlenzusatz benutzt. Ferner bildet Melissenöl den Hauptbestandteil des berühmten echten Chartreuse, eines Kräuterlikörs, der von den Mönchen des Klosters La Grande Chartreuse, der Wiege des Kartäuserordens, hergestellt wurde und dem 1084 gegründeten Einsiedlerorden reichen Gewinn brachte. Die Rezeptur des Likörs unterlag stets der Geheimhaltung; seine Verwendung erfolgte zunächst in der Krankenpflege. Nachahmungen sind unter den Bezeichnungen Kartäuser-, Kloster- und Abteilikör bekannt.
Verfasser
Prof. Dr. rer. nat. habil. Hans-Joachim Walther
Freital, 2005
Literatur (Auswahl)
G. Buchbauer: Aromatherapie – Methoden ihrer Erforschung, Deutsche Apotheker Zeitung Jg. 136, S. 2939–2944, 1996
R. Carle (Hrsg.): Ätherische Öle – Anspruch und Wirksamkeit, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart, 1993
K. Hiller u. M. F. Melzig: Lexikon der Arzneipflanzen und Drogen, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg Berlin, 2003
D. Schmaltz: Pflanzliche Arzneimittel bei Theophrast von Hohenheim genannt Paracelsus, Hippokrates Verlag Marquardt & Cie Stuttgart, 1941
V. Schulz u. R. Hänsel: Rationale Phytotherapie, Springer Verlag Berlin Heidelberg New York, 2004
M. Wenigmann: Phytotherapie, Verlag Urban & Fischer München, 1999
E. Zimmermann: Aromatherapie für Pflege- und Heilberufe, Sonntag Verlag Stuttgart, 2004