„Das Sterbliche dröhnt in seinen Grundvesten, aber das Unsterbliche fängt heller zu leuchten an und erkennt sich selbst.“
Novalis1
BLAU
Wir kamen frisch aus Paris. Gegen Mittag waren wir mit dem Zug nach Chartres gefahren. Es war im September 1990, die Welt war unendlich groß geworden und die Sehnsucht nach der Ferne ließ sich stillen. Mit dem ersten Interrail-Ticket lag uns vier Studenten aus Sachsen Europa auch ohne Geld zu Füßen. Die Kathedrale von Chartres war ein lang gehegter Traum, dem sich die anderen drei beugten. Wir waren auf dem Weg. In Chartres begegnete uns das 800 Jahre alte, tiefe Blau der Glasfenster. Während wir der Orgelmusik von César Franck lauschten, konnten wir ganz in das blaue Licht eintauchen. Heute weiß man nicht mehr genau, wie diese Farben von den Glasmachern im 12. Jahrhundert hergestellt wurden. So weisen die Glasfenster aus dieser Zeit eine höhere Qualität als die ein Jahrhundert später hergestellten auf. Sie strahlen in einem Blau, mit dem sich der Himmel des Orients oder die kostbarsten Saphire nicht messen können.2 Die gotische Architektur ist wegen der Glasfenster entstanden. In gotischen Kathedralen kann durch die Ableitung des Gewölbedruckes auf die Pfeiler die Wand im Wesentlichen durch die Glasfenster ersetzt werden. Licht als Manifestation des Göttlichen sollte einströmen. Weiterhin symbolisieren die Fenster Maria, denn schon Augustinus bezeichnete Maria, die Himmelskönigin, als „Fenster zum Himmel“, deren Mantel in der christlichen Malerei immer blau dargestellt ist.2 3
Blau symbolisiert Weite, denn der Himmel und das Meer erscheinen blau. Sehnsucht und unendliche Ferne und Tiefe leiten sich daraus ab, da die blau schimmernde Weite irgendwo am Horizont mit dem Himmel verschwimmt. Blau steht für Geheimnisvolles, Spiritualität, Kreativität und Denken; aber auch für Ruhe, Zufriedenheit, Entspannung und Verlässlichkeit. Nach Goethes Farbenlehre hat blau etwas „In-sich-hinein-Ziehendes“. Steht das helle Himmelsblau für Träumerei und Irrealität, so ist das dunkle Meeresblau die Farbe der Mystik, des Traumes und des Unbewussten. Das klare Königsblau oder Preußischblau dazwischen vermittelt Klarheit und Rationalität. Deshalb schreiben wohl auch die meisten Schüler mit dieser Tintenfarbe. Wer von den blauen Bergen kommt, in welchen der blaue Enzian blüht, den zieht es in die blaue Ferne. Des Himmels heitre Bläue lacht dazu. Und wer sogar blau ist, also im Rausch eine gewisse Entgrenztheit erlebt, sieht eventuell am Wegrand schlumpfblaue Männlein mit weißen Mützen und Strümpfen, weshalb er den nächsten Tag blau machen sollte, um seinen Blues auszuleben. In der französischen Flagge, der Tricolore, steht das Blau für die Freiheit. Zu den wichtigsten blauen Edelsteinen zählt der Lapislazuli. Diese tiefste und dichteste Materialisation des Blau gleicht mit seinen silbernen Einsprengseln dem tiefblauen Nachthimmel. Aus diesem Stein wurde das Ultramarin gewonnen, eine kostbare Farbe, welche in der Renaissance Marias Mantel vorbehalten und neben Gold die teuerste Farbe überhaupt war. Wurde doch der Stein „jenseits des Meeres“ im fernen Afghanistan gebrochen. Der durchsichtige und zarte Aquamarin dagegen erinnert an das Blau des Wassers. Der lichte Saphir verkörpert schließlich den Himmel und damit die Transzendenz.3 4 Laut dem Zukunftsreport 2020 verdrängt heute das Blau sogar das Grün als Trendfarbe. Die grüne Ökologie war gestern. Sie stand für Ressourcenknappheit und Angst vor dem Raubbau an der Natur. Die blaue Ökologie ersetzt Effizienz durch Effektivität. Das bedeutet, dass die Fülle der Natur und der technologischen Errungenschaften kreativ genutzt und in einem neuen Dialog miteinander kombiniert werden sollen.5 Einer Online-Umfrage in 10 Ländern, darunter Deutschland, China und Australien, zufolge ergab sich schon 2015, dass „blau“ die beliebteste Farbe unabhängig vom Geschlecht sei.6 Selbst ein Kulturmagazin heißt „BLAU“.
Bei Pflanzen ist das anders. Es gibt im Verhältnis zu roten oder gelben Blüten deutlich weniger blaue Blumen. Blau ist in der Natur recht selten. Im Pflanzenreich gibt es nur eine Pigmentgruppe, die Anthocyane, welche neben Violett auch für die Blaufärbung zuständig ist. Die Molekülstruktur der Anthocyane bildet einen komplizierten Komplex, bei dem sich um zwei zentrale Metallionen sechs Anthocyan-Moleküle und sechs weitere Moleküle wie die Speichen eines Rades herum gruppieren. Das ist die chemische Seite der Farbe. Wir sehen eine blaue Blüte, wenn der rote Anteil des weißen Lichtes von der Farbe absorbiert wird. Das reflektierte Restlicht erscheint blau. Rotes Licht ist der am wenigsten energiereiche Lichtanteil im Spektrum. Die absorbierte Lichtenergie wird genutzt, um Elektronen zum Wechsel ihres Energieniveaus anzuregen. Sitzen dabei Elektronen in Molekülen besonders fest, so genügt das relativ energiearme rote Licht nicht, um die Elektronen zu lösen. Deshalb muss eine Blüte, die rotes Licht absorbieren soll, vereinfacht gesagt, „lockere“ Elektronen haben. Das ist in komplizierten und verzweigten Molekülen eher der Fall. Und je komplizierter ein Molekül ist, umso aufwendiger ist es für einen Organismus, sie zu bilden. Deshalb ist die blaue Farbe bei Tieren und Pflanzen seltener zu finden.4 6 Das Schöne daran ist, dass die Natur nicht darauf verzichtet, sondern all ihre Möglichkeiten auch dann ausschöpft, wenn es energetisch aufwendig ist. Blaue Farben bei Pflanzen und Tieren sind die Folge der Spielfreude in der Schöpfung.
Die Blaue Blume
„Es ist eine Ferne, die war, von der wir kommen. Es ist eine Ferne, die sein wird, zu der wir wandern. Und doch ist alle Ferne nahe, wenn man es recht begreift.“7
Eine alte thüringische Volkssage erzählt, dass derjenige, welcher am Abend des Johannistages die blaue Blume findet und pflückt, Eingang hat in den Kyffhäuserberg, wo Kaiser Friedrich wohnt. So wird der Finder ein weiser Mann und der glücklichste Mensch der Welt. In ähnlichen Sagen aus dem Harz wird derjenige, der die blaue Blume sucht, vorher von einem alten Mütterlein oder einem grauen Männlein streng geprüft (z. B. Die blaue Blume im Klus).8 Die immaterielle Sehnsucht der Menschen zielt meist auf etwas Unerreichbares, weit Entferntes. Neben transzendenten Welten richtet sich der Blick entweder auf die Vergangenheit, denn früher war scheinbar die Welt heil; oder auf die Zukunft, denn ohne Hoffnung wird der Mensch krank. Je nach Zeit und Epoche wurden und werden die Sehnsüchte anders formuliert.
Friedrich von Hardenberg (1772–1801) studierte noch in Jena direkt bei Friedrich Schiller Geschichte und Philosophie und interessierte sich für die Schriften von Immanuel Kant. Nach seinem juristischen Examen in Leipzig und Wittenberg arbeitete er als Aktuarius in Bad Tennststedt, wo er sich mit der sehr jungen Sophie von Kühn verlobte. Leider verstarb sie kurz darauf an Lungentuberkulose. Schon zu Lebzeiten betrachtete Hardenberg Sophie als seinen Schutzgeist. Durch dieses aufwühlende Erleben vertiefte sich Hardenbergs dichterisches Schaffen ins transzendente und philosophische Gebiet. Erste Motive des Symbols der Blauen Blume klingen an. Doch Hardenberg zog es ins sächsische Freiberg, wo er sich an der Bergakademie als Student einschrieb. Hier veröffentlichte er bald seine erste Gedichtsammlung „Blüthenstaub“ unter seinem neu gewählten Pseudonym: Novalis. Das bedeutet „ein Neuland Bebauender“ oder „ein sich selbst Erneuernder“.
Zum bedeutendsten Dichter der Frühromantik wurde Novalis durch sein Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“.9 Hier führte er nun endgültig das Symbol der Blauen Blume ein. Der 20-jährige Heinrich sehnt sich nach einer besonderen Blume.
„… fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn` ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anderes dichten und denken.“10
Novalis wandte sich jedoch gegen die Verwendung einer real existierenden Blumenart. Er hielt die Beschreibung bewusst im Ungefähren, so dass sie zum Projektionsort wechselnder Anschauungsweisen werden konnte. Die Blaue Blume entstammt einer Traumwelt und ist eine Art innere Bestimmung. Sie begleitet Heinrich von Ofterdingens innerlichen Entwicklungsweg vom Alltäglichen ausgehend, über die Traumwelt zum Bewusstwerden des Wollens, Denkens und Empfindens. Heinrich wird durch innere Kämpfe geläutert und ihm winkt die Weisheit im Paradies. Dabei kündet die Blaue Blume von der Liebe, dem Leben nach dem Tod und wiederholtem Erdenleben sowie der Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter, wenn Menschen, Tiere und Pflanzen harmonisch und friedlich zusammenleben. Sie ist geheimnisvoll, außergewöhnlich, poetisch und voller Mystik.11 Die Blaue Blume wird durch diesen Roman zum Symbol der Epoche der Romantik, ja z. T. zum Synonym für die deutsche Literatur an sich. Später nutzte die deutsche Wandervogelbewegung sie in ihren Liedern und Schriften. Auch heute klingt in uns etwas von der Blauen Blume nach. So singt der Baggerfahrer und Poet Gerhard Gundermann in seinem Lied „Revolution Nr. 10“:
„… du sahst die blaue blume und du hast sie doch verschont, nur das und nichts weiter mein sohn ist heut schon revolution“12
Dieses Melancholische, Sehnsüchtig-Geheimnisvolle strahlt auch das Blau der Wegwarte aus. Nach einer Überlieferung sollen blaue Blumen die Seele heilen. Vielleicht ist sie deshalb im „Himmelsgarten“ an der Decke von St. Michael in Bamberg gleich neben dem Vergissmeinnicht zu finden. Beide blau blühenden Pflanzen verbinden sich mit dem Begriff der Treue. Beim Vergissmeinnicht hat dies sogar eine doppelte Bedeutung. Einmal die Bitte des Menschen „Vergiss mein nicht!“ als auch die gleiche Mahnung Gottes an den Menschen. Die WEG-Warte oder auch Wegeleuchte genannt, soll uns daran erinnern, den rechten Weg, und zwar den Glaubens- und Liebesweg, einzuschlagen. Die Wegwartenblüten folgen der Sonne, so wie der Mensch immer auf Gott blicken soll.13 Weiterhin ist die Wegwarte eines von Schutzkräutern, die neben Johanniskraut, Mädesüß oder Königskerze in die Kräuterbüsche zum Fest Mariä Himmelfahrt gebunden werden. Denn Albertus Magnus nannte die Wegwarte eine Sonnenbraut und so weist sie uns den Weg zu unserem eigenen Herzen, um die Liebe zu finden. Die Liebe, welche Gott in unser Herz geschrieben hat, und die Sehnsucht, die uns zu ihm zurückführt.14 Zwar ist die Wegwarte bzgl. ihrer Verwendung sehr bodenständig. Doch ihre Blüten setzen sich über die auspuffgetränkten Wegränder und die struppigen, vertrockneten Zweige und Stängel hinweg. In den blauen Blüten spiegelt sich der Himmel, und im Herzen wächst die Sehnsucht nach einem neuen goldenen Zeitalter des Friedens.
Wegwarte
„Heiter und imposant, das Blau des Himmels dem Betrachter entgegenstrahlend und zugleich selbstlos unaufdringlich, erfreut uns die voll entfaltete Wegwarte mit ihrem schier unerschöpflichen Blütenreichtum an sonnigen Sommermorgen.“15
Pünktlich früh um 5.00 Uhr MEZ öffnet die Wegwarte im Sommer ihre hellblauen Blüten. So pünktlich, dass man die Zeit daran ablesen konnte. Deshalb hat Carl von Linné die Wegwarte in seine Blumenuhr aufgenommen, mit welcher er bis auf fünf Minuten genau die Zeit bestimmen konnte. Und spätestens gegen 15.00 Uhr, bei gutem Wetter auch eher, schließen sich die Blüten und welken sofort.16 Wer an einem Sommermorgen blühenden Wegwarten begegnet, kann gerade bei wolkigem Wetter meinen, kleine Himmelsstückchen zu sehen. Scheint die Sonne hell, sind sie manchmal so schnell verblüht, dass die ganze Pflanze wie verschrumpelt und welk scheint. Doch am nächsten Morgen pünktlich beginnen neue Blüten zu erblühen. Während einer Saison bringt eine Wegwartenpflanze bis zu 2000 Blüten hervor. Welch eine unglaubliche Fülle und überfließender Reichtum der Natur ist hier zu beobachten! Dabei erscheinen die Stängel trocken und zäh und die unscheinbaren Laubblätter bleiben klein. Welche Kraft in dieser genügsamen, mehrjährigen Staude steckt, wird häufig übersehen.
Die senkrecht wachsende Pfahlwurzel bohrt sich tief in die Erde und versorgt die Pflanze mit Wasser und Mineralien. So findet sie auch an trockenen, steinigen Standorten wie Weg- und Feldrändern oder Autobahnmittelstreifen Nahrung. Die Wurzel lässt sich zu Vermehrungszwecken teilen. Wie beim Ingwer treiben die Wurzelstücke bald wieder aus und blühen manchmal sogar noch im selben Jahr.
Am Boden bildet sie im ersten Jahr eine kräftige, gezähnte Blattrosette, wobei die Blätter derber und gedrungener sind als beim Löwenzahn, mit dem sie leicht zu verwechseln ist. Die Rosette überdauert den Winter und im Frühjahr treibt ein kräftiger, anfangs saftiger, dann länger und dünner werdender Hauptspross empor. Dieser verästelt im Laufe des Sommers und trocknet aus. Der sparrige Stängel, obwohl innen hohl, ist sehr widerstandsfähig, zäh und steif. Das gesamte Stängelwerk ist kantig, derb und meist borstig behaart. Die unscheinbaren kleinen Laubblätter werden nach oben hin immer fester, kleiner und spitzer.
Häufig beginnt die Wegwarte zur Zeit der größten Lichteinstrahlung, also um den Johannistag herum, zu blühen. Sie gehört wie der Löwenzahn zur Familie der Korbblütler (Asteraceen). Die flach an den Stängel gedrückten, strahlenden Blüten bestehen aus zartblauen Zungenblüten, welche in Kreisen angeordnet sind. Jede Einzelblüte besitzt Fruchtknoten, Staubgefäße und ein einzelnes, strahliges, am Ende fünfzipfeliges Blütenblatt. Jedes dieser Blütenblätter ist aus fünf miteinander verwachsenen feinen, zarten Einzelblättern verwoben worden. Das froh machende und unaufdringliche Blau der Wegwarte, auch Blauwarte genannt, wirkt zurückhaltender als das kräftige, leuchtende Gelb des Löwenzahns. Es können selten auch violette und manchmal blassrosa bis weiße Blüten beobachtet werden. Welken die Blüten, so fallen die geschlossenen Blütenköpfchen in sich zusammen und sehen schmutzig fahl aus. Sind am Nachmittag alle Blüten verwelkt, erscheint die Pflanze wie ein vertrocknetes Stängelgerippe. Doch am Morgen beginnt das himmelblaue Blühen erneut und zieht sich weit in den Herbst hinein.17 18 19
Löwenzahn und Wegwarte
„Die Leber ist der Hauptblutreiniger des Körpers und damit in erster Linie für alle Stoffwechselunstimmigkeiten im Organismus verantwortlich.“
Kräuterpfarrer Johann Künzle (1857–1945)20
Beide Entgiftungskräuter ähneln sich nicht nur bzgl. Pfahlwurzel und Blattrosette. Eine weitere Gemeinsamkeit ist der in beiden Pflanzen in allen Teilen enthaltene bittere Milchsaft. Milchsaft ist oft in Pflanzen zu finden, die Leber und Galle unterstützen. Deshalb haben frisch gegessene Löwenzahnstängel eine leberanregende Wirkung und sind auch nicht giftig. So verleiht der weiße, klebrige Milchsaft auch der Wegwarte einen bitteren Geschmack. Am meisten findet man davon in den Wurzeln, die darüber hinaus Inulin enthalten. Dieses süßlich bis bitter schmeckende Kohlenhydrat wird als Rohstoff für Diätnahrung verwendet. Es wird im Darm nicht wie andere Kohlenhydrate resorbiert, sondern mikrobiell fermentiert. Die Blutfettwerte sinken und der Aufbau einer gesunden Darmflora wird unterstützt. Bei Diabetikern wird dadurch die Insulinbildung angeregt.21 Die Bitterstoffe sind für die hauptsächliche Wirkung beider Heilpflanzen verantwortlich. Sie fördern prinzipiell die Ausschüttung der Verdauungssäfte von Leber, Bauchspeicheldrüse und Zwölffingerdarm, regen die Darmperistaltik an und führen so zu einer beschleunigten Verdauung. Das Darmmilieu wird verbessert und mehr gesunde Keime können den Darm besiedeln.22 Die Wegwarte wird bei Appetitlosigkeit, Magenschwäche und Verschleimung der Verdauungsorgane eingesetzt. Der Löwenzahn wirkt ebenfalls appetitanregend und der Bildung von Gallensteinen entgegen. Er lindert Verdauungsbeschwerden, entschlackt und reinigt das Blut. Ein Salat aus jungen Löwenzahnblättern, während einer Frühjahrskur täglich gegessen, unterstützt die Entgiftung der Leber. Beide Kräuter werden auch als Ruderalpflanzen bezeichnet. Dies sind Pflanzen mit enormer Widerstandskraft, welche überall auf überdüngten Böden, Müllhalden oder an Bahngleisen wachsen. Sie sind in der Lage, Umweltgifte aufzunehmen und zu neutralisieren. So können diese Heilpflanzen, natürlich aus Kulturanbau, auch im Menschen gegen Umwelterkrankungen, also zur Ausleitung von Schadstoffen sowie zur Gallen- und Nierenanregung genutzt werden. Für eine allgemeine Frühjahrs- und Herbstkur empfehlen sich Wegwarten- und Löwenzahnwurzel mit Pfefferminze als Teemischung. Zur Schwermetallausleitung eignet sich ein Tee zu gleichen Teilen aus Beifußkraut, Goldrutenkraut, Gundermann, Löwenzahn- und Wegwartenwurzel.21
Wurzel der Gesundheit
„Der Mensch lebt nicht nur von dem, was er isst, sondern vor allem von dem, was er verdaut.“
Franz Xaver Mayr23
Der Arzt F. X. Mayr (1875–1965) benannte den Dünndarm als die „Wurzel der Gesundheit“. Wie der Baum seine Nahrung und Kraft aus den Wurzeln zieht, so ist der Magen-Darmtrakt für die Vitalität des Menschen entscheidend. Der Funktionszustand dieses Organsystems entscheidet in hohem Maße über Gesundheit und Krankheit des Menschen. Ein überlastetes und geschwächtes Verdauungssystem hat nicht nur Auswirkungen auf den Bauchraum und die Bekömmlichkeit der Speisen. Darmträgheit führt zu Funktionsstörungen, die sich in Reizmagen oder -darm äußern. Dadurch erhöht sich die Giftbelastung im Darm und Gärung sowie Fäulnis sind die Folge. Der Darm verliert seine Selbstreinigungskraft und kann die Gifte nicht mehr vollständig ausscheiden. Es entwickeln sich durch den chronischen Reizzustand geblähte Darmschlingen. Diese führen zu Lymphschwellungen im Bauchraum, welche nicht nur Körperhaltung und Atmung verändern. Auch das Immunsystem, welches auf im Darm trainierte, immunaktive Zellen angewiesen ist, wird geschwächt. Verschlackung, Vergiftung und Übersäuerung leisten missmutigen Gemütszuständen, Schmerzen, lokalen Entzündungen oder juckenden Hautausschlägen Vorschub. Es kommt gleichzeitig zu einer Überlastung von Galle und Bauchspeicheldrüse sowie des Magens und zu einer Verschlackung des Bindegewebes.24
Die Kardinalfehler der Ernährung nach Mayr lauten:
„zu schnell
zu viel und vielerlei
zu oft
zu schwer
zu spät.“25
Hinzuzufügen wäre noch: zu wenig gekaut.
Neben einer Entlastung des Verdauungstraktes durch eine Fastenkur sowie der Entgiftung des Darmes können Bitterstoffe die Funktionen von Leber und Bauchspeicheldrüse unterstützen. Weiterhin ist eine Änderung der Essgewohnheiten, wie Ruhe zum Essen oder intensives Kauen, empfehlenswert. Bei Untersuchungen hat sich herausgestellt, dass Bitterstoff-Rezeptoren nicht nur auf der Zunge sondern im gesamten Verdauungstrakt sowie in der Lunge nachgewiesen werden konnten. Bitterstoff-Rezeptoren stimulieren die Ausschüttung von antimikrobiellen Peptiden, so dass krankmachende Keime erkannt und eliminiert werden können. Schon seit dem Mittelalter ist bekannt, dass Bitterstoffe nicht nur appetitanregende und sekretionsfördernde sondern auch fiebersenkende Eigenschaften haben. Heute werden darüber hinaus antidepressive und aufbauende Wirkungen beschrieben. Bitterpflanzen wie Artischocke, Tausendgüldenkraut oder Schöllkraut werden mit Erfolg bei Müdigkeit, Erschöpfung, Stress oder Hauterkrankungen eingesetzt. Über eine Anregung der Verdauung und insbesondere der Lebertätigkeit können Entgiftungsprozesse in Gang gesetzt werden, welche die Wirkungen eines geschädigten Magen-Darm-Traktes verringern oder sogar beheben.22 26
Die Zichorie
„Hast du Muckefuck im Haus, geht dir die Puste niemals aus!“
(Alter Werbespruch)
Die Wegwarte wurde schon im Altertum als Heilpflanze genutzt, doch erst am Ende des Mittelalters wanderte sie in die Gärten. Durch die nährstoffreichere Bodenbeschaffenheit und andere Konkurrenzsituationen entwickelten sich die Blätter weniger gekerbt und die Wurzeln wurden dicker. Aus der Wildpflanze Wegwarte wurde die Kulturpflanze Zichorie, von welcher in der Regel die Wurzel verwendet wird.27 Die Zichorienwurzel stärkt als Tee oder Tinktur die Sekretionen von Magen, Zwölffingerdarm, Leber und Bauchspeicheldrüse, wirkt blutbildend und reinigend über eine Leberanregung. Mangelhafter Gallenfluss wird verstärkt, weshalb die Anwendung bei Gallensteinen mit einem Therapeuten besprochen werden sollte. Als Kombinatiospräparate zur Leberentgiftung, welche auch Wegwarte enthalten, können Solunat Nr. 8 der Firma Soluna, Chelidonium Kapseln der Firma Wala, Urbitter® Bio Kautabletten von Dr. Pandalis oder Amara-Tropfen der Firma Weleda verwendet werden.
Die im Milchsaft enthaltenen wirksamen Bitterstoffe Lactucin und Lactucopikrin (früher Intybin) weisen einen relativ hohen, natürlichen Chromgehalt auf. Die positive Wirkung von Chrom auf Gehirnbotenstoffe ist bekannt. Eine 2005 an der Charité Berlin durchgeführte Studie belegte die beruhigenden und spannungslösenden Eigenschaften der Wegwarte. Anwendungsbeobachtungen bestätigten einen entspannenden Einfluss von Wegwartenkraut in Kombination mit Melisse auf das Zentralnervensystem sowie eine verbesserte Stresskompetenz. Weiterhin wird der Zusammenhang von Wegwarte als Nahrungsergänzungsmittel und einer Verbesserung des Zuckerstoffwechsels bei Diabetikern diskutiert.22 28
Ganz im Sinne der hippokratischen Idee, dass unsere Nahrungsmittel auch unsere Heilmittel sein sollen, entwickelte sich im 18. Jahrhundert aus der Not heraus die Verwendung der Zichorie als Kaffeepulver. Da Friedrich der Große in Preußen 1781 ein Kaffeerösteverbot und Strafzölle auf die Einfuhr des echten Kaffees erließ, förderte er damit indirekt den Anbau des heimischen „Kaffeekrautes“. In Notzeiten oder bei Erkrankungen griffen die Menschen auf dieses magenfreundliche Kultgetränk zurück, welches später den Namen „Muckefuck“ erhielt. Der bitter schmeckende Chicoree, welcher sich aus der Zichorie entwickelt hat, ist eine beliebte Salatzutat oder wird als gedünstetes Gemüse gegessen. Nach Durchfällen oder entzündlichen Darmerkrankungen, wenn viele Nahrungsmittel schlecht vertragen werden, können gedünsteter Chicoree wie auch Radicchio einen verträglichen Übergang zu kräftigerer Ernährung bilden. Wie der Radicchio stammt die Endivie ebenfalls von der Zichorie ab.19
Die Bachblüte Chicory
Während Homöopathen die Wegwarte eher selten als Einzelmittel (Cichorium) einsetzen, hat sie sich doch ihren festen Platz in Komplexpräparaten zur Appetitanregung, bei Sodbrennen oder Völlegefühl erobert.
Die von Dr. Edward Bach (1886–1936) ursprünglich zusammengestellten 38 Pflanzen haben sich in der Anwendung zur Unterstützung der inneren Balance und Ausgeglichenheit seit 80 Jahren bewährt. Bach entwickelte zwei spezifische Herstellungsverfahren für die einzelnen Essenzen, die Sonnen- und die Kochmethode. Weiterhin ordnete er jeder dieser Pflanzen typische menschliche Seelenhaltungen in Gesundheit und Krankheit zu. Die mittels Wegwartenblüten hergestellte Blütenessenz heißt Chicory. Durch Stress, Krankheit oder psychische Verletzung können sich negative Verhaltensweisen verstärken. Der „Chicory-Mensch“ entwickelt eine besitzergreifende, geliebte Personen eingrenzende sowie fordernde Persönlichkeit. Selbstmitleid, Unzufriedenheit und eine innere Leere können die Folge sein. Zu starke Sorgen um andere wirken für beide Seiten erdrückend. Durch die Einnahme der Chicory-Essenz kann die fordernde und erdrückende Haltung in den Zustand der uneigennützigen Liebe gewandelt werden. Der Gemütszustand einer loslassenden Liebe baut sich in der nun wieder in sich ruhenden Persönlichkeit auf. Sie strahlt dann Geborgenheit, Wärme und Freundlichkeit aus. Geben und Nehmen stehen im liebevollen Gleichgewicht.29
Geduld – Treue – Demut
„In jedem wohnt ein Bild des, was er werden soll.
Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.“Angelus Silesius30
Die Wegwartenblüten vermitteln dem Betrachter eine geduldige, trotzdem aber heitere Stimmung. So wie der Sage nach die Pflanze eine verzauberte Jungfrau darstellt, welche auf den Geliebten wartet, der ins Heilige Land gezogen war und einst mit der Morgensonne aus Richtung Osten zurückkehrt. Die starren, holzigen Äste mit den kleinen Blättern deuten auf das mühselige, sich ständig neu überwindende Tun einer geduldigen Seelenhaltung. Die dazu scheinbar im Gegensatz stehenden, täglich neu aufblühenden Blüten verkörpern die Treue. So muss auch diese Tugend jeden Tag neu aktiv gelebt werden, wenn sie mit Willen durchdrungen werden soll. Die lange Pfahlwurzel ist die Grundlage der Pflanze bzw. nur eine feste Überzeugung kann der Persönlichkeit Tiefe und damit Geduld und Treue verleihen. Durch diese beiden Tugenden vertieft sich der Charakter und es bildet sich die Demut aus dem Selbstbewusstsein der Arbeit an sich selbst im Denken, Wollen und Empfinden sowie aus der Hinwendung zum Nächsten.
Pflanzen können uns bei genauerem Betrachten Stimmungsbilder vermitteln, die uns manches innere Erleben spiegeln. Durch diese Bewusstheit werden uns Seelenregungen klarer. Wir können deshalb von den Pflanzen einiges über uns lernen. So schrieb Friedrich Schiller in einem Epigramm:
„Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren: Was sie willenlos ist, sei du es wollend – das ists!“31
Die blaue Blume
Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.Ich wandre mit meiner Harfe
Durch Länder, Städt und Au`n,
Ob nirgends in der Runde
Die blaue Blume zu schaun.Ich wandre schon seit lange,
Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blume geschaut.Joseph Freiherr von Eichendorff (1788–1857)
2020
-
Roder, Florian: NOVALIS Die Verwandlung des Menschen, Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart, 2000, S. 1↩
-
Ladwein, Michael: Chartres, Verlag Urachhaus, Stuttgart, 2010↩↩
-
Riedel, Ingrid: Farben, Kreuz Verlag, Stuttgart, 1983, S. 47–68↩↩
-
Finlay, Victoria: Das Geheimnis der Farben, Ullstein Heyne List GmbH & Co.KG, München, 2003↩↩
-
Horx, Matthias: Zukunftsreport 2020: Das Jahrbuch für gesellschaftliche Trends und Business-Innovationen, Zukunftsinstitut GmbH, Frankfurt, 2019↩
-
Kupferschmidt, Kai: blau; Die Zeit Nr. 42/2019, Hamburg, S. 41↩↩
-
Kyber, Manfred: Die Lichter der kleinen Veronika, Wilhelm Heyne Verlag, München, 1990, S. 171↩
-
Kiehne Carsten, Lüdtke, Jelka: Kräutersagen aus dem Harz, Selbstverlag Sagenhafter Harz, Bad Suderode, 2018, S. 36–41↩
-
Lauterbach, Werner: Berühmte Freiberger (Teil 2), Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins Heft 85, Freiberg, 2000, S. 99/100↩
-
Novalis: Dichtungen und Fragmente, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig, 1989, S. 7↩
-
Roder, Florian: NOVALIS Die Verwandlung des Menschen, Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart, 2000↩
-
Poesiealbum 338: Gerhard Gundermann, Märkischer Verlag, Wilhelmshorst, 2018, S. 29 „Revolution Nr.10“↩
-
Dressendörfer, Werner: Der „Himmelsgarten“ von St. Michael zu Bamberg, KunstSCHÄTZEverlag, Gerchsheim, 2007↩
-
Grün, Anselm; Tütscher, Susanne: Die Heilkraft der Natur, Vier-Türme GmbH Verlag, Münsterschwarzach, 2010, S. 113/114↩
-
Engel, Wolfram: Compositio Mineralis cum Myrrha: Eine Mineralische Komposition nach dem Modell der Wegwarte, Der Merkurstab 4/2018, Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland e.V., München, 2018, S. 277↩
-
Linnés Blumenuhr, Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern, 2009↩
-
Pelikan, Wilhelm: Heilpflanzenkunde I, Verlag am Goetheanum, Dornach (CH), 2012, S. 281–283↩
-
Engel, Wolfram: Compositio Mineralis cum Myrrha: Eine Mineralische Komposition nach dem Modell der Wegwarte, Der Merkurstab 4/18, Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland e. V., München, 2018, S. 276–280↩
-
Sommer, Markus: Heilpflanzen, Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart, 2011, S. 224–230↩↩
-
Künzle, Johann: Das große Kräuterheilbuch, ed 23, Walter, Olten (Schweiz), 1967, S. 281↩
-
Rippe, Olaf et al.: Paracelsusmedizin, AT Verlag, Aarau (Schweiz), 2001, S. 183↩↩
-
Dr. Pandelis: Urheimisches Kompendium, Naturprodukte Dr. Pandelis GmbH & Co. KG, Glandorf, 2019↩↩↩
-
Milz, E.; Pollmann, A.; Schirmer, K.-P.; Wiesenauer, M.: Naturheilverfahren bei orthopädischen Erkrankungen; Hippokrates Verlag GmbH, Stuttgart, 1998, S. 161↩
-
Milz, E.; Pollmann, A.; Schirmer, K.-P.; Wiesenauer, M.: Naturheilverfahren bei orthopädischen Erkrankungen; Hippokrates Verlag GmbH, Stuttgart, 1998↩
-
Milz, E.; Pollmann, A.; Schirmer, K.-P.; Wiesenauer, M.: Naturheilverfahren bei orthopädischen Erkrankungen; Hippokrates Verlag GmbH, Stuttgart, 1998, S. 164↩
-
Kohlhase, Manfred et al.: Jedes Organ hat sein bestimmtes, spezifisches Geschmackserlebnis, Der Merkurstab 1/18, Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland e. V., München, 2018, S. 13–22↩
-
Küster, Hansjörg: Die Wegwarte: Ihre Wuchsorte in der heimischen Landschaft und die Entwicklung eines Wildkrautes zur Kulturpflanze, Samensurium 16/2005, Zeitschrift des Vereins zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt e.V., 2005, S. 17–20↩
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Harnisch, Günter: Die blaue Wegwarte – Eine Pflanze für den gestressten Städter, natur & heilen 11/2013, München, 2013, S. 38–45↩
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Scheffer, Mechthild: Bach Blütentherapie, Heinrich Hugendubel Verlag, München, 1981↩
-
Roder, Florian: NOVALIS Die Verwandlung des Menschen, Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart, 2000, S. 703↩
-
Schiller, Friedrich: Man liebt nur, was einen in Freiheit setzt!, marixverlag GmbH, Wiesbaden, 2013, S. 108↩