„Die Wegwarte punktet zunächst sichtbar durch ihr wunderschönes Himmelblau“, sagt Konrad Jungnickel, der Erste Vorsitzende des Vereins. „Bedeutsam ist, dass die Pflanze durch ihren wirklich zähen Überlebenswillen auch an Extremstandorten gedeiht. Diese Energie spiegelt sich in ihrer Wirkung wieder.“
Der Verein NHV Theophrastus kürt seit 2003 die „Heilpflanze des Jahres“, um das Interesse der Bevölkerung für natürliche, traditionelle Heil- und Gesundheitspflegemittel zu stärken und damit die Gleichberechtigung der Naturheilkunde neben der wissenschaftlichen Medizin zu fördern.
Cichorium intybus – Inhaltsstoffe und heutige Anwendung
Wegwartenwurzel ist als Traditionelles Arzneimittel zugelassen. Beurteilt wurde dies durch das HMPC. Das ist ein Komitee, welches auf europäischer Ebene für die Bewertung zur Zulassung pflanzlicher Arzneimittel zuständig ist. Nach dessen Einschätzung wird der Wegwarte die Verbesserung der Symptome von leichten Verdauungsbeschwerden wie Völlegefühl, Blähungen, langsamer Verdauung und zeitweisem Appetitmangel bescheinigt.
Nachgewiesene Inhaltsstoffe sind u. a. Inulin, Bitterstoffe (Intybin, heute Lactucopikrin) und Cichoriumsäure. Der Inhaltsstoff Inulin sorgt für eine gesunde Darmflora, indem es die nützlichen Bakteriengruppen im Darm stärkt. Bitterstoffe regen Speichelfluss und Magensaftsekretion an und wirken galle- und harntreibend. Mit einem relativ geringen Bitterwert von 800 (Wermut hat mindestens 15 000) wird ein Wegwartentee auch von Kindern akzeptiert.
In der Erfahrungsheilkunde findet neben der Wurzel auch das gesamte Kraut Verwendung, so beispielsweise bei Schwächezuständen und zur Auflage bei Hautproblemen. Gemeinsam mit anderen Pflanzen wie Löwenzahn, Goldrute, Beifuß und Gundelrebe ist sie ein bewährtes Mittel für eine Frühjahrskur zur Entgiftung. Ihre Eigenschaft, verbleite Luft und belastete Böden an stark befahrenen Straßen und Bahndämmen zu verkraften und dabei der Erde Metalle zu entziehen, ist nach der Signaturenlehre ein Hinweis auf die Entgiftungswirkung für Schwermetalle.
Wegwarte wird als eines der wenigen stärkenden Mittel für die Milz angesehen.
Unter dem Namen „Chicory“ gehört sie zu den klassischen Bachblüten. Dieses Mittel soll Menschen helfen, die besitzergreifend und übermäßig beschützend gegenüber Anderen sind.
Für das homöopathische Mittel Cichorium intybus werden die frischen unterirdischen Teile der Wegwarte verarbeitet. Es ist anwendbar bei Erkrankungen von Leber, Galle und Bauchspeicheldrüse.
Hindläufte und Faule Magd – Bezeichnungen der Wegwarte
Cichorium ist der Gattungsname der Wegwarte und wird abgeleitet vom griechischen kichorion, was aus aus kio (= ich gehe) und chorion (= Feld) besteht. Dies entspricht der Übersetzung des deutschen Namens, da die Pflanze oft an Feldwegen steht. Die Artbezeichnung „intybus“ wird einerseits zurückgeführt auf „entomos“, was „eingeschnitten“ bedeutet und sich auf die Blattform bezieht, andererseits wird es mit dem lateinischen Wort „tubus“ in Verbindung gebracht, was „Röhre“ bedeutet und den hohlen Stängel bezeichnet.
Weiterhin verfügt die Pflanze über viele volkstümliche Namen, die sich auf eine ihrer Eigenschaften beziehen. Nach ihrem Standort an Wildpfaden, wo die Hindin (= Hirschkuh) läuft, wurde sie Hindläufte genannt. Über ihre Farbe wird sie mit dem Namen Blauwarte charakterisiert und nach der Verwendung mit Kaffeekraut. Da sie sich der Sonne zuwendet, wurde sie (himmelblaue) Sonnenbraut bzw. durch Hildegard von Bingen Sunnenwirbel genannt. Die kurze Lebenszeit der Blüten trug ihr die Bezeichnung „Faule Magd“ oder „Faule Gretl“ ein. Der Begriff „Arme-Sünder-Blume“ ist darauf zurückzuführen, dass sie oft an Scheidewegen wächst, an denen nach altem Brauch Selbstmörder begraben wurden. Und der Name Schmärblomm wurde in Hessen geprägt, weil von vorbeifahrenden Wagen oft Wagenfett (Schmär) an den Pflanzen hängen blieb.
Sunnenwirbel – Nutzung seit dem Altertum
Bereits in der Zeit vor Christus wurde die Wegwarte bei Römern und Griechen als Gemüse gebraucht. Hippokrates (460–370 v. Chr.) erwähnte die kühlende Wirkung der Pflanze.
Auch Dioskurides (1. Jh. n. Chr.) bezeichnete die Wegwarte als „kühlend und gut für den Magen“. Plinius d. Ä. (24–79 n. Chr.) empfahl sie außerdem bei Blasen-, Leber- und Nierenbeschwerden. Ihren Saft verwendete man auch bei Augenkrankheiten.
Karl der Große (748–814) soll in der von ihm erlassenen Landgüterverordnung, im Capitulare de villis, unter anderem die Anpflanzung der Wegwarte – unter dem Namen solsequiam – in allen kaiserlichen Gütern befohlen haben.
Gegen Verstopfung verordnete Hildegard von Bingen (1098–1148) die von ihr „Sunnenwirbel“ genannte Wegwarte in einer Rezeptur mit großer Klette, Salz und Honig, damit „… der Betroffene seine Verdauung zur rechten Zeit haben wird …“.
Paracelsus (1493–1541) benutzte die Wegwarte in seinem Sommerwein zur Entgiftung über Darm und Leber. Zur Behandlung der Lepra kombinierte er sie u. a. mit Melisse und Wacholder.
Der Theologe, Arzt und Botaniker Otto Brunfels (1488–1534) hielt in seinem Kräuterbuch das Phänomen fest, dass sich eine Wegwartenblüte rot färbt, wenn sie in einen Ameisenhaufen gelegt wird. Heute ist bekannt, dass sich der blaue Farbstoff durch die Ameisensäure wie Lackmuspapier rötet.
Tabernaemontanus (1522–1590), eigentlich Jakob Dietrich, war Arzt und Apotheker und hielt fest: „Sie thut Widerstand aller Vergiftung.“
Adam Lonitzer (1528–1586) empfiehlt die Wegwarte auch gegen die Gicht: „Dieses Krauts Blumen und Wurzel zerstossen/und Pflasterweiß übergelegt/da jemand das Podagram hat/benimmt den Wehethum zuhand.“
Sebastian Kneipp (1821–1897) verordnete das Wegwartenkraut auch äußerlich als Auflage bei Magendrücken und schmerzhaften Entzündungen.
Kaffeekraut – gesunde Alternative in Notzeiten
Eine neue Art der Verwendung ergab sich, als im 18. Jahrhundert entdeckt wurde, dass die geröstete Wurzel der Wegwarte einen gesunden Ersatz für den teuren Bohnenkaffee lieferte. Als einer der Entdecker gilt der Hofgärtner von Arnstadt Johann David Timme. Die erste Zichorienfabrik zur Großproduktion wurde jedoch von Major Christian von Heine und dem Hotelier Christian Gottlieb Förster in Braunschweig gegründet.
Friedrich der Große (1712–1786) – volkstümlich der „alte Fritz“ genannt – förderte in dieser Zeit den Anbau der Pflanze in Preußen, weil er den Import des teuren Bohnenkaffees reduzieren wollte. Durch die von Napoleon 1806 verhängte Kontinentalsperre wurden Lebens- und Genussmittel, wie z. B. die exotischen Kaffeebohnen, knapp. Dadurch erlangte der Kaffeeersatz noch größere Bedeutung. Bald etablierte sich für dieses Getränk der Name „Muckefuck“, der eine Verballhornung vom französischen „Mocca faux“ war, was „falscher Kaffee“ bedeutet.
Experimentierfreudige können die gesunde Kaffee-Alternative selbst herstellen: Im Herbst wird die Wurzel der einjährigen Wegwarte ausgegraben, gereinigt und evtl. an manchen Stellen geschält. In kleine Stücke geschnitten, wird sie getrocknet und dann in einer Pfanne ohne Fett geröstet, bis sie braun ist. Zu Pulver gemahlen, aufgebrüht und abgegossen, hat sie einen dem Kaffee ähnlichen Geschmack.
Zichorie – Salat mit vielen Gesichtern
Wie vielseitig die Wegwarte ist, zeigt sich auch an den verschiedenen Salatsorten, die aus unterschiedlichen Züchtungen hervorgegangen sind.
Die Zichorienwurzel, die zur Kaffee-Erzeugung verwendet wurde, war der Ausgangspunkt für die Entdeckung des Chicorees. Einer Überlieferung zufolge hatten belgische Bauern nach einer ertragreichen Ernte Wurzeln übrig, die sie im Gewächshaus wieder in Erde einschlugen. Ein paar Wochen später entdeckten sie mit Erstaunen, dass die Wurzeln im Dunkeln getrieben und schmackhafte helle Blätter hervorgebracht hatten. Im industriellen Anbau wird die Wurzel nur einmal beerntet, während Hobbyanbauer ihr Glück bei entsprechend dicken Wurzeln auch mit einem erneuten zweiten und dritten Austrieb versuchen können.
Weitere Zuchtformen der Wegwarte sind Radicchio, Fleischkraut (= Zuckerhut) und Kapuzinerbart.
Der mit der Zichorie eng verwandten Endivie (Cichorium endivia) entstammen die Züchtungen: Eskariol, Frisee und Schnitt-Endivie.
Himmelblaue Sonnenbraut – Brauchtum und Volksglauben
In Zeiten, in denen Glaube, aber auch Aberglaube Überzeugung waren, gute, aber auch böse Magie nebeneinander standen, ist es verständlich, dass auch die Wegwarte mit ihrer starken Ausstrahlungskraft große Bedeutung für den Zauberglauben besaß. So sollte sie nicht nur hieb-, stichfest und unsichtbar machen, sondern auch jungen Mädchen im Traum den künftigen Ehemann zeigen und einem Bestohlenen den Dieb. In das Essen des Ehemanns gemischte pulverisierte Wegwarte gab eifersüchtigen Frauen die Möglichkeit, sich seiner Treue zu versichern. Wer am 29. Juni, dem Petrustag, die Pflanze mit einem Hirschgeweih ausgrub, könne jede Person betören, die er mit der Blume berührte. Besondere Kraft wurde der seltenen weißen Wegwarte zugeschrieben. Gebärende legten sich diese Wurzel unter, um die Geburt zu erleichtern.
Die Wegwarte ist das Symbol treuer Liebe in Verbindung mit meist vergeblichem Warten. In zahlreichen Legenden steht die Pflanze als verzauberte Jungfrau mit blauen Augen am Wegesrand und hofft auf die Wiederkehr ihres Geliebten. Im Christentum symbolisiert die bittere Wegwarte die Passion Christi.
Hansel am Weg – zu Hause an extremen Standorten
Verbreitet ist die Gemeine Wegwarte in fast ganz Europa, in Nordafrika und Westasien. Eingeschleppt wurde sie auf nahezu allen Kontinenten.
Die Wegwarte wird als sogenannte Ruderalpflanze bezeichnet. Das sind Pflanzen, die überall wachsen und gedeihen, wo der Mensch seine Spuren hinterlassen hat: an Mauern und Zäunen, auf Schutthalden und Mülldeponien, an Bahndämmen oder brachliegenden Äckern, an Wegrändern und stark befahrenen Straßen. Da die Pflanze eher trockenen Boden liebt, ist sie sehr häufig an Straßenrändern zu finden, weil das Gelände mit Sand oder Schotter aufgefüllt und damit der Boden gut durchlüftet ist, sodass das Regenwasser schnell abfließen kann.
Die Wegwarte ist ein mehrjähriges, ausdauerndes, krautiges Korbblütengewächs mit einer langen Pfahlwurzel. Es bildet im ersten Jahr seiner Existenz nur eine bodenständige Blattrosette, deren gestielte Blätter einen schrotsägeähnlichen Blattrand haben. Deshalb ist die Pflanze in diesem Stadium sehr leicht mit dem Löwenzahn zu verwechseln.
Erst ab dem 2. Jahr treibt sie einen kantigen bis zu 2 Meter hohen Stängel, der oben sparrig verzweigt ist und einen Milchsaft enthält. Dort, wo häufig gemäht wird (an Straßenrändern) erreicht die Pflanze jedoch nicht diese Höhe. Die wenigen Stängelblätter sind länglich und kleiner als die der Rosette, stehen wechselständig und sitzen ungestielt am Stängel.
Das Auffälligste an der Pflanze ist das wunderschöne Himmelblau der Blüten. Selten kommen auch weiße Blüten vor. Die etwa drei Zentimeter großen Blütenköpfchen – eigentlich ist es ein Blütenstand, bestehend aus vielen Einzelblüten – sitzen direkt an den Stängeln oder Verzweigungen. Die Blüte besteht aus zwei Reihen Zungenblüten (diese erscheinen dem Laien als Blütenblätter), von denen jede in fünf Spitzen (Kronzipfeln) endet.
Die Pflanze blüht von Juni bis Oktober, aber jede Einzelblüte blüht nur kurze Zeit. Nach Beobachtungen des schwedischen Botanikers Carl von Linné, der in Uppsala seine berühmte Blumenuhr anlegte, öffnet sie sich um 5.00 Uhr früh und schließt sich am zeitigen Nachmittag wieder. Ihr Blütenleben dauert bei sonnigem Himmel etwa 6 Stunden oder weniger, bei bedecktem jedoch länger.
Sind die Blüten geschlossen und verwelkt, ist die Pflanze unscheinbar und hebt sich kaum noch vor ihrem Hintergrund ab. Dadurch wurde schon mancher irritiert, der die Pflanze am Morgen auf dem Weg zur Arbeit am Straßenrand bewunderte, während sie abends auf der Rückfahrt einfach nicht mehr zu sehen war.
Blauwarte – mehr als nur Unkraut
Heilmittel, Salat oder einfach nur Schönheit – Nutzen bringt die Wegwarte in jeder Form den Menschen, ihren Gärten und der Umwelt. Denn besonders Wildbienen (insbesondere die Hosenbienen) und Hummeln naschen gern an den blauen Blüten und die Samen bereichern im Herbst die Speisekarte von Stieglitzen.
„In dieser Pflanze steckt mehr gesundheitsförderndes Potential, als heute allgemein bekannt ist und veröffentlicht wurde“ fasst Jungnickel zusammen, „und wir hoffen, dass die medizinische Forschung sich in Zukunft mit weiteren Studien der Blauwarte widmet.“
2019
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